Liebe Gemeinde,
wenn wir an das vergangene Jahr denken, kommt uns wohl allen zuerst Corona in den Kopf. Wir alle hatten und haben damit zu kämpfen, manch einer mehr, manch einer weniger. Am schlimmsten sind sicher diejenigen betroffen, die einen Menschen durch Corona verloren haben, die selbst krank wurden und an den Spätfolgen leiden, und auch diejenigen, deren wirtschaftliche Existenz weggebrochen ist.
Es leiden aber auch alle, die Ihre Eltern oder kranke Angehörige kaum noch besuchen und nicht umarmen dürfen, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich als Corona-Jahrgänge Angst um die Zukunft machen, und diejenigen, die durch die Kontaktbeschränkungen einsam geworden sind.
Die Politikerinnen und Politiker sowie alle anderen, die Entscheidungen zu treffen hatten und haben, haben es schwer, denn es gab nie gute Lösungen. Bei jeder Entscheidung war immer deutlich, dass man damit Menschen auch schadet. Es war immer eine Abwägung, mit welchen Maßnahmen am wenigstens Schaden entsteht, und, wie man dann im Nachhinein merkte, es wurden auch falsche Entscheidungen getroffen. Eine immense Verantwortung, die Menschen mit Entscheid-ungsgewalt zu treffen haben. Bei Corona geht es meist um die Entscheidung zwischen Leben und Tod, zwischen Gesundheit oder Krankheit.
Das erinnert mich an die Verantwortung, die Gott vor langer Zeit seinem Volk auferlegt hat. Die Israeliten waren unterwegs aus der Knechtschaft in Ägypten in das gelobte Land. 40 Jahre - so wird es erzählt - wanderten sie durch die Wüste. Eine schwierige, entbehrungs-reiche Zeit, die an den Nerven aller zehrte.
Eine Zeit, in der Gott dem Mose auch die 10 Gebote gab, um dem Volk Orientierung zu geben. Gott sprach zu seinem Volk:
„Himmel und Erde sind meine Zeugen, dass ich euch heute vor die Wahl gestellt habe zwischen Leben und Tod, zwischen Segen und Fluch. Wählt das Leben, damit ihr und eure Kinder nicht umkommt!
Liebt den HERRN, euren Gott, und hört auf ihn! Haltet ihm die Treue! Dann werdet ihr am Leben bleiben und in dem Land wohnen, das der HERR euren Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob versprochen hat."
Nach wie vor haben wir die Wahl, Entscheidungen zu treffen, die entweder dem Leben oder dem Tod dienen. Das ist im Jahr 2020 schmerzhaft deutlich geworden.
Die Politikerinnen und Politiker mussten grundsätzliche Entscheid-ungen über Schließungen und Kontaktbeschränkungen fällen. Immer geleitet von der Frage, was dient dem Leben am meisten?
Aber wir alle mussten und müssen auch jeden Tag neu entscheiden wie wir uns verhalten, wie wir am besten dem Leben dienen. Wenn man sich für etwas entscheidet, entscheidet man sich automatisch auch immer gegen etwas. Wenn ich mich also dafür entschieden habe, keinen Besuch im Seniorenheim zu machen, um kein Virus in die Einrichtung zu tragen, habe ich gleichzeitig zur Einsamkeit der Heimbewohner beigetragen. Eine einfach gute Entscheidung gibt es nicht.
Wählt das Leben, verlangt Gott. Ja, das wollen wir, aber ist Leben nicht mehr, als einsam ohne Kontakte in einem Heim zu wohnen?
Ist Leben nicht mehr, als allein in seiner Wohnung zu sein ohne Freunde und Familie zu treffen?
Ist Leben nicht mehr, als nur zur Arbeit zu gehen, zu essen und zu schlafen?
Leben ist mehr als reines Überleben.
Wählt das Leben! Verlangt Gott. Das klingt einfach, aber letztlich muss immer abgewägt werden. Was dient dem Leben am besten?
Wer Entscheidungen trifft, macht auch Fehler. Schon im Frühjahr sagte Jens Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“
Einander zu verzeihen, andere Menschen und Gott um Vergebung zu bitten, spielt im Christentum eine zentrale Rolle
Und es ist auch nicht weiter erstaunlich, dass Herr Spahn christliche Begriffe nutzt, denn er ist bekennender Katholik. Er sagte in einem Interview im Mai 2018, dass er durch den Glauben wisse, dass er von etwas getragen werde, das größer sei als er. „Das gibt mir Tag für Tag die Sicherheit, den Anfeindungen des Alltags zu widerstehen.“
Dass er im Jahr 2020 diese Sicherheit, die der christliche Glauben schenkt, besonders brauchen würde, hatte er nicht geahnt.
Ein prominenter Christ hat uns darauf aufmerksam gemacht: Wir werden nach – und ich ergänze – und auch während Corona viel verzeihen müssen.
Dieser Gottesdienst ist ein guter Raum, darüber nachzudenken, wen ich zu diesem Jahreswechsel um Verzeihung bitte möchte. Im Stillen oder vielleicht auch ganz konkret.
Ich selbst bitte alle um Verzeihung, denen ich in den letzten Wochen ungehalten begegnet bin, weil die immer neuen Regeln, die es in den Kirchengemeinden umzusetzen waren, an meinen Nerven gezehrt haben.
Ich bitte die um Verzeihung, bei denen ich das Wissen um die Regeln bei Trauerfeiern und Gottesdiensten vorausgesetzt habe ohne mir die Zeit zu nehmen, alles noch einmal ganz ruhig zu erklären.
Ich bitte die Menschen um Verzeihung, die sich über einen Besuch oder einen Anruf von mir gefreut hätten, was ich aber unterlassen habe, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt war.
Im Stillen bitte ich aber auch um Verzeihung bei manchen Politikern, über deren Entscheidungen ich mich aufgeregt habe ohne nachzu-vollziehen, wie schwer solche Entscheidungen zu fällen und zu tragen sind.
Es ist nicht leicht, Fehler einzusehen und um Verzeihung zu bitten, aber wo das gelingt, werden neue Kräfte frei.
Und es ist auch nicht leicht, anderen zu vergeben. Unsere Enttäusch-ungen und Verletzungen, die andere uns zugefügt haben, sind oft tief.
Und vielleicht ist es sogar am allerschwierigsten, sich selbst zu vergeben. Denn gegenüber uns selbst sind wir oft am strengsten.
Aber verzeihen und Vergebung ist nicht nur nötig, sondern auch möglich. Gott selbst unterstützt uns dabei. So wie wir es in jedem Vater Unser beten: Gott, vergib uns unsere Schuld, wie wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. AMEN